„Man kann Grönland nicht verlassen, ohne dass es einen verändert. Man wird es nicht mehr los.“
„Die Arktis ist nicht nur visuell überwältigend – sie ist ein völlig anderes sinnliches Erlebnis. Die Stille kann ohrenbetäubend sein.“
Eisbären bei der Jagd beobachten, Fjorde erkunden und das ohrenbetäubende Geräusch der Stille? Die in Stanford ausgenbildete Ingenieurin und inzwischen engagierte Grönland-Botschafterin Arielle Montgomery teilt ihre Gedanken über Fotografie, den Klimawandel und den besten Weg, Grönland wirklich zu erleben…
Sie haben jede Stadt in Grönland besucht. Welche Bedeutung hat diese Reise für Sie?
Arielle: Ich bin eine „Completionist“ – also jemand, der etwas vollständig machen mochten. So gehöre ich zu den wenigen Ausländern und zu den ganz wenigen Amerikanern, die jede Stadt in Grönland besucht haben. Je mehr ich reiste, desto mehr wurde mir klar, wie wenig die Außenwelt über Grönland weiß – jenseits von Eisbergen und Klimawandel. Je abgelegener der Ort war, desto lohnender war die Erfahrung. In den entlegenen Städten wurde ich in eine völlig andere Lebensweise versetzt, und das hat mich tiefgreifend verändert. Wir sagen immer: Man kann Grönland nicht verlassen, ohne dass es einen verändert. Man wird es nicht mehr los.
Welche Erlebnisse mit der Tierwelt sind Ihnen von Ihren Reisen in Grönland besonders in Erinnerung geblieben?
Arielle: Sehr viele! Einen Eisbären dabei zu beobachten, wie es aus sicherer Entfernung eine Robbe verfolgt… Ich habe mit meinem Jager auf dem Schneemobil einen Eisbären aus etwa drei Metern Entfernung gesehen. Ich habe die Nordlichter über einem Inuit-Jägerlager tanzen sehen, Mahlzeiten mit einer Familie in einer abgelegenen Siedlung geteilt. Wo soll ich da anfangen, wenn es um das lokale Leben geht? Ich habe eine Belugawal-Jagd miterlebt – das hat mich dazu inspiriert, einen kurzen Film zu drehen: „It‘s hard to hear a whisper“. Darin geht es darum, dass viele Menschen die indigenen Rechte in Bezug auf die Jagd nicht verstehen. Die Starke der Inuit ist nicht laut – sie ist leise. Denn man muss der Umwelt zuhören, um zu überleben. Laut zu sein, ist nicht hilfreich.
Das klingt nach einem sehr interessanten Projekt. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Arielle: Natürlich! Das Projekt drehte sich darum, aufzuzeigen, wie die rasante Modernisierung Grönlands und die Einführung der Lohnarbeit die Jager und ihr unersetzliches Wissen wertlos erscheinen ließen. Wie die „leisen Stimmen“ der Ältesten nicht für das Stadtleben gedacht waren. In abgelegenen Orten wie Ittoqqortoormiit und Qaanaaq ist das Gefühl kultureller Identität sehr stark, während es in Nuuk viel schwieriger ist, eine Verbindung zum Land zu spuren. In den entlegenen Städten lässt sich die Subsistenzwirtschaft sind sie reich an Identität. Aber Fangquoten und das schmelzende Meereis machen ihr Überleben besonders schwer. Hinzu kommen weitere Herausforderungen, wie die hohen Kosten für die Haltung eines Hundeschlittens und die Futteranforderungen. Innerhalb eines Rudels gibt es komplexe Dynamiken, ähnlich wie bei Pferdeherden mit klarer Hierarchie. Man kann nicht einfach irgendeinen Hund hinzufugen und erwarten, dass er erfolgreich ist oder von Rudel akzeptiert wird. Wir überlegen derzeit, wie wir die Hundeschlitten in Ittoqqortoormiit fordern können, weil einige der jungen Jager noch keine Hunde besitzen. Für ihre Entwicklung als Jager – und auch für ihre Einkommensmöglichkeiten – wird das jedoch entscheidend sein.
Wie haben sich die traditionellen Inuit-Kulturen an das moderne Leben angepasst, und welche Aspekte sind nach wie vor stark verankert?
Arielle: Die Jagdtradition besteht fort, auch wenn sich die Werkzeuge verändert haben. Vor allem das Schneemobil von 1977 ist die sichtbarste Anpassung. Die Gemeinschaftsbindungen sind nach wie vor unglaublich stark. Doch Anpassung ist nicht immer einfach, da die rasante Modernisierung Herausforderungen wie den Verlust von sila (Spirituelles Gleichgewicht), Identität, Wohnungsnot und Ernährungsunsicherheit mit sich gebracht hat.
Scoresbysund ist das größte Fjordsystem der Welt. Was macht dieses Gebiet für Sie so besonders?
Arielle: Ihre Weite. Aber auch, weil dort viele „erste Male“ erlebt habe. Dort habe ich zum ersten Mal das Meereis gesehen, dort habe ich meinen ersten Eisbären erblickt, es war der erste Fjord, den ich mit meinen Führern auf einem unberührten Pfad überquert habe. Es war der Ort, an dem ich zum ersten Mal auf dem Eis laufen und einen Eisberg berühren konnte – und es war die erste Fata Morgana, die ich jemals gesehen habe. Man kann hier tagelang unterwegs sein, ohne ein anderes Schiff zu sehen. Die Eisberge sind riesig, und die Landschaft wirkt fast wie aus einer anderen Welt.
Wo Gletscher sich bewegen und Geschichte schmilzt
Welche Begegnungen mit der Tierwelt kann man in Scoresbysund oder im Kong-Oscar-Fjord erleben?
Arielle: Moschusochsen, Polarfuchse, Schneehasen, Seevogel, Narwale, Walrosse und möglicherweise Eisbären. Die extreme Abgeschiedenheit sorgt dafür, dass sich die Tierwelt hier natürlicher verhält.
Was offenbar der Besuch des abgelegenen Dorfes Ittoqqortoormiit über das Leben in der Arktis?
Arielle: Es ist eine der isoliertesten Gemeinschaften Grönlands, in der die Subsistenzjagd nach wie vor lebensnotwendig ist. Sie stellt die gängigen Vorstellungen davon, was es bedeutet, in der Arktis zu leben, auf die Probe.
Inwiefern spiegelt die verlassene Bergbaustadt Ivittuut die Vergangenheit Grönlands wider?
Arielle: Es war die einzige Kryolith-Mine der Welt und während des Zweiten Weltkriegs entscheidend für die Aluminiumproduktion. Heute ist es eine Geisterstadt – eine Erinnerung an Grönlands Rolle in der Weltgeschichte. Ich persönlich möchte, dass es so bleibt, denn in dieser Frage habe ich eine klare Haltung. Ich stehe auf der Seite der Grönländer in der Debatte um den Film. Am verletzendsten ist die Ungerechtigkeit, dass dies nicht mit den Grönländern geteilt wird, und die Erzählung, Grönland sei lediglich ein Kostenfaktor oder erhalte Zuwendungen aus Dänemark als reine Wohltätigkeit.
Welche Bedeutung haben die Qilakitsoq-Mumien, die derzeit in Grönländischen Nationalmuseum in Nuuk aufbewahrt werden?
Arielle: Sie ermöglichen einen erstaunlichen Einblick in das Leben der Inuit vor vielen Jahrhunderten. Ihre Erhaltung ist absolut gespenstisch – insbesondere die des Säuglings. Ich werde in diesem Sommer in Rahmen einer anderen Reise dorthin fahren.
Die Diskobucht und die unbewohnte Insel Skjoldungen liegen beide an der Westküste Grönlands. Was macht sie so unvergesslich?
Arielle: Das Eis in der Diskobucht ist surreal – einige der fotogensten Formationen der Welt. Skjoldungen hingegen fühlt sich an wie eine geheime, unberührte Wildnis.
Hören das Brüllen der Stille
Der Ilulissat-Eisfjord ist UNESCO-Welterbe. Können Sie und bitte etwas mehr darüber erzählen?
Arielle: Hier befindet sich einer der sich am schnellsten bewegende Gletscher der Erde. Das Ausmaß der Eisbewegung ist unvergleichlich. Zudem ist er von atemberaubender Schönheit. Sermeq Kujalleq heißt der Gletscher am Ende des Ilulissat/Eisfjords – und er ist wahrlich beeindruckend. Der Gletscher ist sechs Kilometer breit und 45 Kilometer lang, was 66.000 Fußballfeldern entspricht. Täglich kalbt er die Menge an Eis ins Meer, die dem jährlichen Wasserverbrauch der gesamten Insel Manhattan entspricht. Sermeq Kujalleq erzeugt 10% aller Eisberge in Grönland.
Und was macht das Kajakfahren in der Arktis so besonders?
Arielle: Hier kommt man dem Eis so nah, wie es nur geht, ohne direkt darauf zu stehen. Man spürt die Kälte, hört das Knacken des Eises. Es ist ein vollständig eindringliches Erlebnis. Die Arktis ist nicht nur visuell überwältigen – sie ist ein völlig anderes sinnliches Erlebnis. Die Stille kann öhren betäubend sein.
Warum ist Ihre Fotografie ein so kraftvoller Teil Ihrer Arbeit?
Arielle: Ich nutze die Fotografie, um Geschichten zu erzählen, die über die üblichen Untergangsszenarien des arktischen Wandels hinausgehen. Fotografie ist für mich eine Möglichkeit, den Geist Grönlands einzufangen. Es geht nicht nur um Eis – es geht um die Menschen, um das Spiel des Lichts über der Landschaft und um das Gefühl, am Rand der Welt zu stehen. Sehen heißt glauben. Die Menschen hören zwar vom schmelzenden Eis, doch wenn sie ein Bild eines einstürzenden Gletschers oder eines Inuti-Jagers auf driftendem Meereis sehen, wirkt das ganz anders. Ich hoffe, dass meine Fotos eine emotionale Verbindung schaffen – damit die Menschen Grönland nicht nur als abstraktes Klimakrisengebiet betrachten, sondern als einen realen Ort mit realen Menschen.
Sie haben einige der abgelegensten und dramatischsten Landschaften Grönlands fotografiert. Welchen Rat geben Sie jenen, die Ähnliches anstreben?
Arielle: Fotografieren Sie wahrend der goldenen Stunden – also früh am Morgen oder am späten Abend – wenn das Licht weich ist. In den Sommermonaten, von Juni bis August, haben wir fast 24 Stunden Tageslicht. Meine besten Aufnahmen aus Grönland sind entweder bei bewölktem Himmel entstanden oder wahrend der „Mitternachststouren“ in den Abendstunden. Persönlich bevorzuge ich das Licht am Abend. Achten Sie auf Spiegelungen und Maßstab – ein Eisberg mit einem kleinen Zodiac-Boot im Bild erzählt eine weitaus stärkere Geschichte als das Eis allein. Und haben Sie Geduld! Eisberge verändern sich von Minute zu Minute
Jeder Besuch bringt eine neue Lektion
Was zieht Sie immer wieder zurück in die Arktis?
Arielle: Dort fühle ich mich am lebendigsten. Jeder Besuch ist anders. Aber mich faszinieren die Lebensweisen der Inuit, daher kehre ich vor allem im Rahmen kultureller Expeditionen zurück, die ich selbst organisieren, um zu lernen, wie man sich von der Welt abkoppelt, um wieder zu sich selbst zu finden. Wenn ich aus Grönland zurückkomme, bin ich eine bessere Problemlöserin und eine bessere Freundin. Ich lerne so viel von der Weisheit der Ältesten oder durch einen Blick auf das Eis, wie ich ihn mir zuvor nicht vorstelle konnte. Mit jedem Besuch tauche ich tiefer in die grönländische Kultur ein. Es ist, als wäre ich eine Forscherin.
Warum ist eine Expeditionskreuzfahrt eine hervorragende Möglichkeit, Grönland zu erleben?
Arielle: Zugang. Er bietet die größte Chance, Tiere in freier Wildbahn zu sehen. Viele Orte in Grönland sind nur per Schiff erreichbar – insbesondere die abgelegenen.
Welchen besten Reisetipp haben Sie selbst erhalten?
Arielle: Respektiere das Land, respektiere die Menschen, und sei immer darauf vorbereitet, dass ich das Wetter augenblicklich andern kann. Es gibt kein schlechtes Wetter. nur schlechte Kleidung!